21.07.2022 11:25 // Unser Gehirn: Faszination und Rätsel

Unser Gehirn ist das komplizierteste Organ unseres Körpers. Seine Komplexität wurde bis heute trotz umfangreichster Forschungsprojekte und neuester Technologien noch nicht gänzlich verstanden. Prof. Dr. med. Johannes Treib, Chefarzt unserer Klinik für Neurologie, Priv.-Doz. Dr. med. Andreas Simgen, Chefarzt unserer Klinik für Neuroradiologie, und Priv.-Doz. Dr. med. Kajetan von Eckardstein, Chefarzt unserer Klinik für Neurochirurgie, geben einen Einblick in dieses komplexe Organ.

Was fasziniert Sie am Gehirn?

Dr. Simgen: Nicht nur die Steuerung von Bewegungen oder die Verarbeitung von Emotionen sondern auch die Individualität der Persönlichkeit jedes einzelnen macht das Gehirn zu einem faszinierenden Organ. Hinzu kommt die ausgeprägte Plastizität, die es uns erlaubt, bis zum Tod neue Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erwerben oder im Rahmen einer Erkrankung verlorene Funktionen wieder zu erlernen oder kompensieren zu können.

Dr. von Eckardstein: Schaltzentrale des Körpers und Sitz der Seele – das Gehirn ist das Organ, das uns als individuellen Menschen definiert. 

Was sind die häufigsten Erkrankungen des Gehirns?

Prof. Treib: In unserer Klinik ist der Schlaganfall die bedeutendste Erkrankung. Weitere wichtige Erkrankungen des Gehirns sind Epilepsie, Parkinson, Demenz, Multiple Sklerose, Meningoencephalitis, um nur die Wichtigsten zu nennen.

Dr. Simgen: Die Erkrankungen unseres Gehirnes sind sehr vielfältig. Sie reichen von Tumor-Erkrankungen über degenerative oder entzündliche Erkrankungen bis hin zu Erkrankungen unserer Hirngefäße. Bei den Tumor-Erkrankungen stehen Metastasen (Absiedlungen von Krebserkrankungen anderer Körperregionen) an erster Stelle und sind gefolgt von einer Vielzahl an hirneigenen Tumoren.

Die degenerativen Erkrankungen unseres Gehirnes umfassen in erster Linie kognitive Einschränkungen, wie zum Beispiel Gedächtnisstörungen im Rahmen einer Demenz oder auch Einschränkungen der körperlichen Beweglichkeit im Rahmen einer Parkinsonerkrankung.

Entzündungen unseres Gehirnes können zum einen durch Bakterien oder Viren, zum Beispiel in Form einer Hirnhautentzündung (Meningitis), verursacht werden. Zum anderen können auch körpereigene Immunreaktionen, die gegen die Nervenzellen unseres Gehirnes gerichtet sind, eine Entzündung hervorrufen. Ein Kernbeispiel für eine solche entzündliche Erkrankung des Gehirns ist die Multiple Sklerose.

Bei den Erkrankungen der Hirngefäße steht der Schlaganfall im Fokus. Plötzlich auftretende Ausfallerscheinungen, zum Beispiel Sprachstörungen, sensible oder motorische Einschränkung einer Körperhälfte, treten durch den Verschluss einer Hirnarterie auf. Ursächlich dafür ist in den meisten Fällen ein Blutgerinnsel aus dem Herzen, das durch Herzryhtmus-Störungen entstehen kann oder durch eine Einengung der Kopf-Hals-Gefäße.

Eine weitere wichtige Erkrankung unserer Hirngefäße sind Gefäßwand-Aussackungen, sogenannte Aneurysmen. Diese können an unterschiedlichen Orten auftreten und eine lebensbedrohliche Hirnblutung verursachen.

Dr. von Eckardstein: Für uns als Neurochirurgen sind die häufigsten Erkrankungen des Gehirns Blutungen und Tumore.

Wie machen sich Erkrankungen des Gehirns bemerkbar?

Prof. Treib: Viele Funktionen des Gehirns laufen unbewusst ab. Wir bemerken eine Störung erst, wenn die entsprechende Funktion ausfällt. Dies betrifft komplexere Funktionen wie zum Beispiel das Lösen mathematischer Aufgaben oder die Fähigkeit zu adäquaten Sozialkontakten. Aber auch viele scheinbar einfache Funktionen, zum Beispiel der aufrechte Gang bis hin zu der Atmung, sind ohne das Gehirn nicht möglich. Entsprechend vielseitig können die Symptome von Hirnerkrankungen sein. Leichtere Störungen können bei oberflächlichen Untersuchungen schnell übersehen werden.

Dr. Simgen: Meningitis äußert sich meistens durch starke Nackenschmerzen und eine Lichtempfindlichkeit. Bei anderen entzündlichen Erkrankungen wie zum Beispiel einer Multiplen Sklerose können Taubheit oder Kribbeln der Arme und Beine sowie eine verminderte Belastbarkeit und rasche Erschöpfung auftreten.

Leitsymptom für eine Hirnblutung, die durch ein Aneurysma verursacht wird, ist ein plötzlicher und ungewöhnlich starker Kopfschmerz. Dieser wird häufig auch als Vernichtungs- oder Donnerkopfschmerz bezeichnet. Häufig ist dieser von einer Störung des Bewusstseins begleitet.

Wie sich Hirntumoren bemerkbar machen, ist sehr variabel und hängt von der genauen Lokalisation im Gehirn ab. Je nachdem können Taubheitsgefühle, Schwindel, Lähmungen oder Sprachstörungen auftreten. Meistens ist das Erstsymptom eines Hirntumors ein epileptischer Krampfanfall.

Plötzlich auftretende Sehstörungen, Sprach- und Verständigungsstörungen, Taubheitsgefühle oder Lähmungen sowie auch Schwindel und Gangunsicherheit sind klassische Beschwerden eines Schlaganfalles.

Dr. von Eckardstein: Tumore und auch Blutungen des Gehirns können sich durch Ausfallerscheinung der Funktionen des Gehirns bemerkbar machen, also durch Sprachstörungen, Bewegungsstörungen und Sehstörungen, ferner durch epileptische Krampfanfälle. 

Werden Krankheiten des Gehirns unterschätzt?

Prof. Treib: Erkrankungen des Gehirns sind der häufigste Grund für Pflegebedürftigkeit und Behinderungen, sodass sie kaum übersehen werden. Im letzten Jahrhundert galten neurologische Erkrankungen als weitgehend nicht therapierbar. Dies hat sich auch dank der enormen Fortschritte im Bereich der Radiologie grundlegend geändert. Heute können wir alle wichtigen neurologischen Erkrankungen hochwirksam therapieren.

Unterschätzt werden daher nicht die Krankheiten des Gehirns, sondern leider die heute zur Verfügung stehenden Therapiemöglichkeiten. Dies hat zu Folge, dass viele Patienten auch aus unserer Region nicht adäquat behandelt werden und viele Menschen unnötig behindert sind und zu Pflegefällen werden.

Dr. Kajetan von Eckardstein: Nein, ich glaube, dass vielen Patienten klar ist, dass Erkrankungen des Gehirns mit wesentlichen, schwerwiegenden Problemen verbunden sind. 

Wie sehen wirksame Therapien aus?

Prof. Treib: Die Zahl der zur Verfügung stehenden wirksamen Medikamente und Therapieverfahren ist im Bereich der Neurologie in den letzten 20 Jahren regelrecht explodiert. Daher haben wir in unserer Klinik für die wichtigsten Krankheitsbilder Sektionen gebildet, die von erfahrenen Sektionsleitern geführt werden.

Dr. Simgen: Beim Schlaganfall ist schnelles Handeln gefordert, hier zählt jede Minute. Durch eine mangelnde Versorgung unseres Gehirnes mit Blut gehen pro Minute circa 2 Millionen Nervenzellen zugrunde. Kann eine Therapie zeitgerecht eingeleitet werden, sind die Chancen auf eine vollständige Erholung und einen Rückgang der Symptome hoch.

Die Standard-Therapie des Schlaganfalles besteht heutzutage aus der kombinierten medikamentösen Behandlung sowie, bei größeren Gefäßverschlüssen, aus einem minimal-invasiven Katheter gestützten Verfahren. Dabei wird das Blutgerinnsel mechanisch aus dem Hirngefäß entfernt.

Für die Versorgung eines gebluteten oder nicht-gebluteten Hirnarterien-Aneurysmas stehen zwei Verfahren zur Auswahl. Diese umfassen die neurochirurgische Operation sowie die minimal-invasive Katheter gestützte Embolisation durch die Einbringung von zum Beispiel Platin-Spiralen in das Aneurysma.

Warum sind Patienten mit Erkrankungen des Gehirns in unserem Neurozentrum besonders gut aufgehoben?

Prof. Treib: In Rheinland-Pfalz sind wir das einzige Klinikum, bei dem eine Abteilung für Neurologie, Neurochirurgie und Neuroradiologie unter einem Dach als Neurozentrum eng zusammenarbeiten. Unsere Neuroradiologie ist apparativ auf dem neuesten Stand. Da wir die einzige Neurologie in einem riesigen Einzugsgebiet von etwa 500.000 Einwohner sind, haben wir einen entsprechend hohen Patientenandrang. Daraus resultiert eine große Erfahrung bei allen gängigen neurologischen Krankheitsbildern. 

Dr. Simgen: Unser Neurozentrum besitzt eine fachübergreifende Expertise und bietet die derzeit aktuellsten und modernsten diagnostischen Gerätschaften sowie Behandlungsmethoden an. Ein interdisziplinärer Austausch rund um die Uhr erlaubt uns, für jeden Patienten ein geeignetes und individuelles Behandlungskonzept erstellen und anbieten zu können.

Dr. von Eckardstein: Weil im Neurozentrum die Spezialisten der verschiedenen Fachrichtungen, also die Neurochirurgen, die Neurologen und die Neuroradiologen, eng zusammenarbeiten und sich mit ihren Erfahrungen zum Wohl der Patientinnen und Patienten ergänzen. 

Wie kann ich selbst zur Gesundheit meines Gehirns beitragen?

Prof. Treib: Am wichtigsten sind eine gesunde Lebensführung mit einer gesunden Ernährung und ausreichend Bewegung, die Teilnahme an Vorsorge-Untersuchungen und eine bestmögliche Einstellung der Risikofaktoren, insbesondere des Blutdrucks, Cholesterin, Vermeidung eines übermäßigen Alkoholkonsums und natürlich ein konsequenter Nikotinverzicht.

Dr. von Eckardstein: Ernähren Sie sich gesund, bewegen Sie sich und halten Sie Ihr Gehirn fit! Sprechen Sie mit Freunden und Familie und lesen Sie! Knobeln Sie und machen Denksportaufgaben! Hören Sie mit dem Rauchen auf! Trinken Sie nur wenig Alkolhol! Andere Risikofaktoren können Sie nicht beeinflussen – also ändern Sie etwas an den Dingen, die Sie ändern können!